Deutscher Verkehrsgerichtstag
In dem Arbeitskreis I, der sich mit dem Thema „Punktereform auf dem Prüfstand” befasste, wurde zunächst darauf hingewiesen:
Im Jahr 2014 wurde das Punktesystem grundlegend reformiert. Vorausgegangen waren umfassende fachliche Erörterungen und sogar eine Bürgerbeteiligung. Fast 5 Jahre danach ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Konnten die gesetzten Ziele erreicht werden? Ist das neue Fahreignungs-Bewertungssystem einfacher und transparenter geworden? Können Behörden und Bürger den Punktestand einfacher erkennen? Wie haben sich die Maßnahmen entwickelt? Die Diskussion soll erkennen lassen, ob und bei welchen Regelungen Verbesserungsbedarf besteht.
Folgende Empfehlungen wurden gegeben:
Generell sollten nur verkehrssicherheitsrelevante Zuwiderhandlungen mit Punkten belegt wer- den. Das unerlaubte Entfernen vom Unfallort sowie allgemeine Straftaten, auch wenn für sie neuerdings ein Fahrverbot verhängt werden kann, sollen nicht mit Punkten bewertet werden.
Der Gesetzgeber sollte an der Gewährung einer Punktereduzierung für den Besuch eines Fahreignungsseminars nach April 2020 festhalten, auch wenn sich eine Verhaltensverbesserung durch die Teilnahme derzeit noch nicht nachweisen lässt.
Der Arbeitskreis II, der sich mit dem Thema „Automatisiertes Fahren“ befasste, merkte an:
Während strafrechtsrelevantes Fehlverhalten im Straßenverkehr heute in der Regel an ein zu ahndendes Fehlverhalten des Fahrers anknüpft, wird sich diese althergebrachte Tradition zukünftig verlagern. Nicht mehr der Fahrer entscheidet autark über die Einleitung eines Bremsvorganges oder einer Ausweichbewegung, sondern das wie von Geisterhand gesteuerte Fahrzeug selbst. Denn die unaufhaltsame Fortentwicklung der Assistenzsysteme führt zu einer wachsenden Verantwortungsverlagerung vom Faktor „Mensch“ auf den Faktor „Technik“. Was aber, wenn es zu einem Unfall mit Schaden kommt?
Wer wird künftig der strafrechtlich Verantwortliche sein, wenn sich der traditionelle Fahrzeugführer, von Pflichten entbunden, im gesetzlich erlaubten Standby-Modus befindet? Wird der Fahrzeughersteller bei Schadensfällen zum „Beschuldigten der Zukunft“? Welchen Anforderungen muss die im Fahrzeug verbaute Technik gerecht werden, um dem Vorwurf der Sorgfaltswidrigkeit zu begegnen? Wo beginnt die Sorgfaltspflicht, was gehört zum allgemeinen Risiko?
Auch die Art der Beweisgewinnung im Rahmen der Ermittlungen wird sich verlagern. Wie gelangt man an die Daten, die Auskunft über eine etwaige Fehlfunktion liefern können? Wird der Gutachter zum alles entscheidenden Beweismittel?
Der Arbeitskreis empfahl:
Die durch hoch- und vollautomatisiertes Fahren aufgeworfenen neuen Fragestellungen sind auf der Grundlage des bisherigen Strafrechts zu lösen. Es bedarf keines Sonderstrafrechts.
Die bereits erfolgte frühzeitige Schaffung eines Rahmens für das automatisierte Fahren höherer Stufen wird ausdrücklich begrüßt. Die derzeitige gesetzliche Regelung der Pflichtenstellung des Fahrzeugführers beim hoch- und vollautomatisierten Fahren (§ 1b StVG) ist, trotz mancher Bedenken – z.B. hinsichtlich des Spannungsverhältnisses von Abwendungsbefugnis und Wahrnehmungsbereitschaft – bezüglich ihrer praktischen Handhabbarkeit, grundsätzlich ausreichend. Die weitere Klärung obliegt der Judikatur und Rechtsdogmatik. Zur Aufklärung von Delikten ist für hoch- und vollautomatisierte Fahrzeuge die dafür erforderliche Unfall- und Ereignisdatenspeicherung vorzusehen.
Der Arbeitskreis V, der sich mit dem Thema „Alkolock“ befasste, wies darauf hin:
Nach wie vor spielt Alkohol als Unfallursache in der Verkehrsunfallstatistik eine bedeutsame Rolle, sogar überproportional bei schweren Unfällen mit Personenschäden und Getöteten. Weitere Maßnahmen der Spezialprävention sind bei der Risikogruppe der Trunkenheitsfahrer daher dringend erforderlich.
Da sowohl die Praktikabilität (Einbau eines Alkohol-Interlockgerätes) sowie die Gewährleistung des Datenschutzes noch nicht hinreichend gesichert sind, werden derzeit die Rahmenbedingungen für einen Modellversuch diskutiert. Klar ist bereits, dass sich das angestrebte Verkehrssicherheits- potenzial nur mit einer verkehrspsychologischen Begleitmaßnahme realisieren lässt.
Diskutiert werden sowohl Fahrerlaubnis- wie auch strafrechtliche Möglichkeiten, ob und wie alkoholauffälligen Kraftfahrern, denen die Fahrerlaubnis entzogen worden ist, eine Fahrerlaubnis mit Beschränkung unter Einsatz eines Alkohol-Interlock-Programms erteilt werden kann.
Der Arbeitskreis forderte:
Die Einführung von Alkohol-Interlock-Programmen (AIP) als Ergänzung zu dem bestehenden Maßnahmensystem für alkoholauffällige Kraftfahrer, um Fahrten unter Alkoholeinfluss zu verhindern. Die AIP sollten eine Kombination aus dem Einsatz eines Alkohol-Interlock-Geräts und einer verkehrspsychologischen Begleitmaßnahme sein.
Für den Arbeitskreis VI, der sich als verkehrssicherheitsrelevanter Arbeitskreis bezeichnete und mit dem Thema „LKW- und Busunfälle“ befasste, führte Siegfried Brockmann, Leiter Unfallforschung der Versicherer, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., der bereits zwei Mal als Referent die Mitgliederversammlung der LVW Hessen in Bad Soden-Salmünster bereichert hatte, aus:
Das Unfallgeschehen mit LKW ist überwiegend geprägt durch Stauende- und Abbiegeunfälle. Im ersteren Fall zeigt sich, dass Lkw ohne Lenkrad- oder Bremsbetätigung ins Stauende fahren. Das liegt an einem eigentlich anachronistischen Arbeitsplatz. Wer über mehrere Stunden monotoner Fahrt ohne Beschäftigung ist, muss entweder schläfrig werden oder sich ablenken. Beides ist gleichermaßen im Ernstfall fatal. Umso wichtiger ist eine Unterstützung durch technische Assistenten, die stehende Hindernisse rechtzeitig und zuverlässig erkennen, im Ernstfall den Fahrer warnen und, bei ausbleibender Reaktion, selbsttätig eine Vollbremsung einleiten.
Auch beim Abbiegeunfall sind Assistenten, die vor Radfahrern und Fußgängern im Seitenraum warnen, das Mittel der Wahl. Diese Unfälle haben in der Regel für schwächere Verkehrsteilnehmer schwerwiegende Folgen und können offenbar durch inzwischen vier vorgeschriebene Spiegel zur rechten Lkw-Seite nicht verhindert werden. Ein Abbiegeassistent, der den Fahrer ohne zu viele Fehlwarnungen zuverlässig vor im Gefahrenbereich befindlichen Fußgängern und Fahrradfahrern warnt, muss daher vorgeschrieben werden.
Schwere Busunfälle sind selten und waren bei größerer Opferzahl oft mit Bränden verbunden. Ein Notbremsassistent muss deshalb, wie beim LKW, Auffahrunfälle möglichst vermeiden. Konstruktiv und durch Verbauung entsprechender Materialien muss der Ausbruch bzw. die Ausbreitung von Bränden verhindert werden.
Der Arbeitskreis forderte die Bundesregierung auf, in den internationalen Gremien weiterhin darauf hinzuwirken, dass Notbremsassistenten von Lkw und Bussen dem neuesten Stand der Technik entsprechen. Das bedeutet u. a., dass fahrende Fahrzeuge vor einem Stauende zum Stehen kommen und sich abschaltbare Systeme zeitnah automatisch wieder reaktivieren müssen.
Die Bundesregierung wird weiterhin aufgefordert, in den internationalen Gremien darauf hinzuwirken, dass alle neuen Lkw und Busse mit einem Assistenten ausgerüstet sein müssen, der Radfahrende im kritischen Abbiegebereich zuverlässig erkennt und den Fahren- den optisch und akustisch warnt. Hersteller sollen die Zuverlässigkeit soweit verbessern, dass in Zukunft auch ein Bremseingriff möglich wird, wenn eine Fahrerreaktion unterbleibt.
Busunfälle und Busbrände dürfen nicht zu einer Vielzahl von Opfern führen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, in den internationalen Gremien darauf hinzuwirken, dass der Tank besser vor Beschädigung geschützt wird und die Innenraummaterialien schwerer entflammbar sind. Die Bundesanstalt für Straßenwesen soll Vorschläge für entsprechende technische Vorgaben erarbeiten.
Insbesondere Radfahrende und zu Fuß Gehende sollen durch geeignete Maßnahmen - auch in der schulischen Verkehrserziehung - über die eingeschränkten Sichtmöglichkeiten vom Fahrerplatz aus sensibilisiert und zu vorausschauendem Verhalten angehalten werden. Die verpflichtenden Schulungen für Lkw- und Busfahrende sollen um das Thema:
„Möglichkeiten und Grenzen von Assistenzsystemen“ erweitert werden.
Die verantwortlichen Behörden werden aufgefordert, wo immer möglich, Verkehrsströme so zu steuern, dass abbiegende Kraftfahrzeuge und Radfahrende bzw. zu Fuß Gehende jeweils eigene Grünphasen haben.
Der Arbeitskreis VII, der sich mit dem Thema „Dieselfahrverbote“ befasste, wies darauf hin: Dieselfahrverbote sind ausnahmsweise möglich, sagt das Bundesverwaltungsgericht. Dafür müssen eine Überschreitung des EU-Grenzwertes zweifelsfrei feststehen und alle milderen geeigneten Mittel zur Schadstoffreduzierung erfolglos geblieben sein. Auch nicht manipulierte Diesel nach Euro 4 und Euro 5 könnten in naher Zukunft aus belasteten Städten ausgesperrt werden. Nachrüstungen der Soft- und Hardware senken die Schadstoffe. Aber gibt es schon heute eine gesetzliche Pflicht, diese Kosten dem Hersteller oder Staat aufzuerlegen?
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch sein Urteil vom 27.02.2018 klargestellt, dass auch ohne weiteres Handeln des deutschen Gesetzgebers Fahrverbote zur Einhaltung von Grenzwerten angeordnet werden können. In mehreren Städten werden daher die Luftreinhaltepläne fortgeschrieben, so dass es bereits erste Streckenverbote gibt und Fahrverbotszonen für Euro 4 und Euro 5-Diesel angekündigt werden. Für die Überschreitung der EU-Grenzwerte ist nicht nur die Auswahl der Messstelle, sondern auch deren konkrete Einrichtung maßgeblich. Die europäischen Vorgaben lassen hierfür einen technischen Spielraum zu, der bei strenger Anwendung zum Überschreiten und bei Ausschöpfung des Rahmens zum Unterschreiten führt. Dies sowie weitere Aspekte der Verhältnismäßigkeit sind bei der Anordnung und gerichtlichen Überprüfung von Fahrverboten zu würdigen.
Der Arbeitskreis empfahl:
Nachdem in jüngster Zeit der Grenzwert für NO2 (Stickstoffdioxid) von 40 Mikrogramm/m3 Luft in Frage gestellt wurde, wird die Europäische Kommission aufgefordert, zeitnah den Grenzwert auf seine wissenschaftliche Fundiertheit und Belastbarkeit zu überprüfen und künftig eine gesetzlich verpflichtende Evaluierung von Grenzwerten vorzusehen.
Nur auf der Grundlage eines wissenschaftlich fundierten Grenzwertes dürfen Fahrverbote als in Grundrechte eingreifende Maßnahmen als letztes Mittel angeordnet werden.
Um eine schnellstmögliche Reduzierung der NO2-Werte zu erreichen, ist eine zeit- nahe Hardware-Nachrüstung für Diesel-Fahrzeuge anzustreben, insbesondere durch eine kurzfristige Zulassung durch das Kraftfahrt-Bundesamt und durch staatliche Anreize. Die Autoindustrie wird aufgefordert, sich an den Kosten einer Hardware-Nachrüstung zu beteiligen.
Die derzeitige rechtliche Grundlage für das Aufstellen der Messstationen genügt nicht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot. Daher wird der Gesetzgeber aufgefordert, eindeutige standardisierte Vorgaben für die Positionierung von Messstationen festzulegen.
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